Zum Tod von Dr. Ingo Waszerka

Vom Glück des Scheiterns

von Maik Priebe

 

Der Doktor inszenierte einmal Schillers Don Karlos. Es begann mit einer langen stummen Szene: Der spanische Hof saß schweigend beim letzten Mahl in Aranjuez. Scheinbar war König Philipp II. aber nur mit wenig Personal in seinen Sommersitz gereist, denn im Hintergrund stand lediglich ein Bediensteter, der am Ende dieser wortlosen Szene in Windeseile Teller, Bestecke und Gläser abzuräumen hatte. Weil dieser Bedienstete nun aber neu am spanischen Hofe zu sein schien und sich äußerst ungeschickt anstellte, setzte der Doktor am Tag der Generalprobe eine Extraprobe an. Und so wartete das gesamte Ensemble in Kostüm und Maske auf besagten Statisten. Und wartete und wartete. Denn ich hatte verschlafen und musste mich von Waszerkas Assistentin wecken lassen. Auf dem Weg durch die Kantine, in die Garderobe erreichten mich hasserfüllte Blicke des Ensembles und ich erwartete einen lautstarken, zu Recht erbosten Anpfiff. Und was tat der Doktor? Er sagte lächelnd und wie immer freundlich „Guten Morgen!“ und verlor kein weiteres Wort über die Sache.

 

Waszerka war der bescheidenste, humorvollste und großherzigste Intendant, den ich kenne. Und er war ein Visionär. Und was für einer!

 

Noch bevor wie heute allerorts Teamleitungen beschworen wurden, leitete er bereits gemeinsam mit Opernintendant Werner Saladin und dem Geschäftsführenden Intendanten Joachim Kümmritz dieses wundervolle Theater. Und dass dieses Haus so voller Wunder war, lag eben auch an Waszerka, der nämlich das war, was heute so viele ersehnen: Ein Ermöglicher! Er ließ die gesamte Kammerbühne für einen Shakespeare-Zyklus umbauen zu einem roten, blutverschmierten bretterverschlagenen Ort, an dem Richard III. und Macbeth ihr Unwesen trieben und am Ende die ungezähmt Widerspenstige den Männern die Leviten las. Waszerka ermöglichte Uraufführungen mit unendlich sperrigen Texten und ebenso sperrigen Regisseuren. Und verströmte dennoch immer ein derartiges Grundvertrauen in Text, Regie und Ensemble, dass man während der Proben zwar oft ratlose Gesichter sah, am Ende aber meistens ein beglücktes Ensemble traf.

 

Dabei leitete Waszerka das Schauspiel am Mecklenburgischen Staatstheater in turbulenten Zeiten. Und als immer mehr Schwerinerinnen und Schweriner Richtung Westen verschwanden, weil die blühenden Landschaften der Nachwende auf sich warten ließen, da erfand Waszerka nicht nur die Schlossfestspiele, sondern auch das Europäische Festival und holte bedeutende Theater nach Schwerin. Da gastierten plötzlich die Münchner Kammerspiele, das Theatre Vidy Lausanne oder die Toneelgroup Amsterdam. Und man bekam den Eindruck, dass Schwerin eben doch der Mittelpunkt der Theaterwelt war.

 

Waszerka hat schon in den 90ern das getan, was für ein Theater heute selbstverständlich sein sollte: Er installierte es innerhalb einer Stadtgesellschaft. Er kam 1991 und änderte das Schauspielensemble so behutsam wie möglich und eben nicht mit der Brechstange. Und was für ein Ensemble hier zu sehen war! Lore Tappe, Brigitte Peters, Cordula Gerburg, Judith van der Werff, Ute Kämpfer, Gretel-Müller-Liebers, Marianne Barth, Nadja Schulz, Simone Cohn-Vossen, Marco Albrecht, Bruno Apitz, Jochen Fahr, Dirk Audehm, Thorsten Merten, Peter Festersen, Udo Molkentin, Andreas Keller, Klaus Bieligk, Ekkehard Hahn und viele viele mehr. Waszerka kam mit Respekt und ließ zu, dass sich andere neben ihm entfalten konnten. Er führte das Haus mit seiner klugen Spielplanpolitik zum Berliner Theatertreffen und zu allen wichtigen Festivals neuer Dramatik. In Schwerin wurde in den acht Jahren von Waszerkas Schauspielintendanz scheinbar 24 Stunden am Tag gespielt, gesungen, getanzt, gelacht, geweint – da wurde das Foyercafé für Nachtschwärmer eröffnet, die damals in Schwerin noch ziellos herumirrten. Da wurde der Marstall wiederbelebt und im Dom Theater gemacht. Da wurden Lastenaufzüge bespielt und das Kulissenmagazin. Da verbiss sich ein junger Assistent mit seinem Team in den Text eines berühmten Autors, der die Aufführung aber nicht erlauben wollte. Und was tat Waszerka? Er ließ die Arbeit nicht einfach sterben, sondern ermutigte das Team weiterzumachen, benannte einen neuen Urheber, der sich wundersamer Weise auf den ursprünglichen Autoren reimte und die Arbeit kam doch heraus. Eben jene Inszenierung kam innerhalb des Projektes Vom Glück des Scheiterns zustande und dieser poetische Titel beschreibt wohl am sinnlichsten Waszerkas Blick auf das Theater. Man kam an diesem Theater nicht vorbei, weil es in schweren und stürmischen Zeiten so unglaublich unbeschwert erschien.

 

Der Tod von Dr. Ingo Waszerka, den die meisten wohl nur den Doktor nannten, lässt unzählige Geschichten zurückkehren. Erinnerungen an beglückende Proben, erfolgreiche Inszenierungen, weniger erfolgreiche natürlich auch, an rauschhafte Premierenfeiern in der Kantine, an badende Schauspielerinnen und Schauspieler im Pfaffenteich, an „Bingo“, wie der Doktor von Cordula immer genannt wurde, an eine Taube, die in Waszerkas letzter Inszenierung Jedermann im Dominnenhof zu Tode kam und im Anschluss vom Doktor in einer humorig-traurigen Rede zu Grabe getragen wurde – und auch Waszerkas Lachen höre ich in der Erinnerung wieder. Denn einmal, Waszerka hatte eine turbulente Charleys Tante inszeniert, grölte und lachte und jubelte der gesamte Zuschauerraum. Nur ein Lachen war lauter und ansteckender! Das Lachen von Dr. Ingo Waszerka.

 

Wir werden Ihr Lachen vermissen, lieber Doktor!

 

 

Maik Priebe, geboren 1977 in Schwerin, ab 1994 Statist, Hospitant, Regieassistent, Souffleur und Inspizient am Mecklenburgischen Staatstheater. Ab 1998 Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin. Inszenierungsaufträge führten ihn u.a. an die Stadt- und Staatstheater in Kassel, Weimar, Halle, Göttingen, Augsburg, Nürnberg, Münster und an das Wiener Burgtheater. Für seine Inszenierungen wurde Maik Priebe mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Günther-Rühle-Preis, sowie dem Kurt-Hübner-Preis für Nachwuchsregisseure der Akademie Darstellender Künste. In den vergangenen Jahren entstanden darüber hinaus diverse Dokumentarfilme, zuletzt Die Überkümmelung des Wassers (2021), der u.a. auf Filmfestivals in Indien, Dänemark, Rumänien und die USA eingeladen war.

Trauer um Ingo Waszerka

von Franziska Pergande

 

Das Mecklenburgische Staatstheater trauert um Dr. Ingo Waszerka, der am 16. April 2022 in Schwerin im Alter von 83 Jahren gestorben ist. Ingo Waszerka leitete von 1992 bis 1999 als Schauspielintendant gemeinsam mit Opernintendant Werner Saladin und dem Geschäftsführenden Intendanten Joachim Kümmritz das Mecklenburgische Staatstheater. In den Neunzigern, einem Jahrzehnt, das auch für die Theater in der ehemaligen DDR eine schwierige Umbruchzeit mit großen Veränderungen war. Ingo Waszerka, der damals aus dem Westen nach Schwerin kam, schrieb später über diese „Ménage-á-trois“: „Alle drei Herren hatten nur eins im Sinn: die Sache. Egoismen zählten nicht mehr.“

 

Das Leitungsteam schaffte es, in einer Zeit als viele Bühnen mit stark rückläufigen Besucherzahlen zu kämpfen hatten, mit den Schlossfestspielen Schwerin ein neues Format zu entwickeln, das bis heute erfolgreich im Sommer die Landeshauptstadt kulturell belebt. Eröffnet wurden sie 1993 mit Waszerkas Schauspielinszenierung von Marlowes Faust im Schlossinnenhof. Die Gründung des „Europäischen Theaterfestival" 1994 erfolgte ebenfalls auf Initiative des Schauspielintendanten. Im selben Jahr wurde das Mecklenburgische Staatstheater mit der Inszenierung Othello zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Auch die Eröffnung des Schweriner E-Werks 1999 - nach hartem Ringen mit Politikern und Behörden - ist dem Leitungsteam dieser Zeit zu verdanken. Allerdings kündigten Werner Saladin und Ingo Waszerka zum Ende der Spielzeit 1998/1999 ihre Verträge. Die mangelhafte Finanzausstattung des künstlerischen Etats war für beide Künstler nicht mehr tragbar.

 

Ingo Waszerka wurde 1939 in Breslau geboren. Er studierte Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaft in Wien und Köln. 1965 wurde er promoviert. Nach Engagements als Dramaturg und Regisseur in Hannover und Oberhausen wurde er Chefdramaturg am Staatstheater Darmstadt und am Düsseldorfer Schauspielhaus. Von 1981 bis 1987 wirkte er als Schauspieldirektor und stellvertretender Intendant unter Adolf Dresen am Schauspiel Frankfurt am Main. Danach arbeitete er freischaffend als Regisseur in München und bei den Festspielen Bad Hersfeld, als Dramaturg am Schauspielhaus Bochum und am Burgtheater Wien. Zusätzlich zu seinem Engagement als Schauspielintendant in Schwerin von 1992 bis 1999 war er in der Spielzeit 1997/1998 Intendant der Bad Hersfelder Festspiele. Ab 1999 inszenierte Ingo Waszerka als freier Regisseur unter anderem bei den Schlossfestspielen Heidelberg und den Schlossfestspielen Schwerin.

 

Der „Doktor“ oder „Dottore“ wie Waszerka von manchen Kolleg:innen am Mecklenburgischen Staatstheater wohlwollend betitelt wurde, hatte ganz offensichtlich viele Talente. In Schwerin stand er mit Leidenschaft auch selbst auf der Bühne, z. B. in der Titelrolle von Tankret Dorsts Schauspiel Herr Paul, aber auch spontan, wenn einer seiner Bühnenkünstler ausfiel. Zuletzt war er in Schwerin 1999 in Jedermann an der Seite von Ilja Richter zu sehen. Rückblickend über seine Jahre am Mecklenburgischen Staatstheater resümierte der Theaterleiter, Regisseur und Dramaturg 2016 in einem Aufsatz: „Es sollten die schönsten von 40 Jahren Theater für mich werden.“

 

Schauspielintendant Ingo Maszerka
Dr. Ingo Waszerka © Sigrid Meixner
Veröffentlicht im April 2022

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