Die größtmögliche Sehnsucht

Dramaturgin Jennifer Bischoff im Gespräch mit Regisseur Patrick Wengenroth über die Arbeit mit Texten ostdeutscher Künstler:innen und die größtmögliche Sehnsucht

 

Jennifer Bischoff

Bevor wir über deine aktuelle Inszenierung sprechen: Welche Rolle spielt Musik in deinen Arbeiten?

Patrick Wengenroth

Alle meine Theaterprojekte sind grundsätzlich mit einem Musiker auf der Bühne. Also selbst wenn das dann zum Teil vorproduzierte Musik ist, gibt es immer eigenen Live-Anteil. Man muss sehen, wer die Musik macht und wo sie herkommt. Das hat sich natürlich auch über die Jahre entwickelt. Im E-Werk bei Ab jetzt ist Ruhe durfte Matze Kloppe z. B., neben der Tatsache, dass er sein Keyboard gespielt und gesungen hat, auch den Grill bedienen und während der Vorstellung Würstchen braten. Das sind so Momente, da entwickelt sich der Musiker auch zum Mitspieler, genauso wie er ja im Probenprozess einfach ein Kollege ist. Insofern ist das immer auch Ausdruck der größtmöglichen Sehnsucht, all die Menschen, die so einen Abend gemeinsam verfertigen, in Erscheinung treten zu lassen.

 

JB Alle Stoffe, die du in Schwerin für die Bühne bearbeitet hast, sind Auseinandersetzungen mit ostdeutschen Künstler:innen. Hast du eine besondere Perspektive auf diese Themen?

PW Bei diesem Projekt hatten wir bereits relativ früh einen zusätzlichen Untertitel, nämlich, dass es sich um ein Labor handelt, einen Ort der Forschung. So sehe ich auch immer den Probenprozess: Man forscht gemeinsam an einem bestimmten Gegenstand und findet im besten Fall etwas heraus, was man noch nicht weiß. Das gilt für alle Beteiligten, inklusive mir. Deshalb arbeite ich auch nicht mit vorgefertigten Texten und solchen, die ursprünglich für die Bühne gedacht waren, sondern für mich ist diese Anverwandlung im Kollektiv mit den Schauspieler:innen und allen weiteren künstlerischen Mitwirkenden total essenziell. Bei Utopia, meinetwegen ist es eine interessante Mischung innerhalb der Produktion: Einige haben eine Ost-Biografie oder zumindest Eltern, die im Osten gelebt haben und andere wiederum nicht. In diesem Projekt, in dem wir gesagt haben, wir nehmen primär ostdeutsche Autorinnen in den Fokus, landet man dann, z. B. in der Probe, bei Konflikten im ehemaligen Jugoslawien oder man ist schnell auch bei sehr heutigen Fragen von Gendergerechtigkeit, Repression oder dem Wiedererstarken der Kirche. Es gibt nicht eine Version von Geschichte – Geschichtsschreibung ist oft verklärt oder eben Siegergeschichte. Also sollte man sie immer wieder neu angucken und aus den aktuellen Strömungen, Entwicklungen und Diskursen heraus befragen. Geschichte ist nie fertig. Weil immer Menschen, die nicht live dabei waren, dann darüber befinden, was damals war. Und die Leute, die sich unmittelbar auf der Geschichtszeitleiste bewegen, sind geworfen in Zeitläufe, die sie in dem Moment, in denen es ihnen passiert eben auch nicht zur Gänze durchsteigen, sondern hinterher erst merken: Was war denn das jetzt?

 

Regisseur Patrick Wengenroth

 

Regisseur Patrick Wengenroth ist regelmäßig am Mecklenburgischen Staatstheater zu Gast und inszenierte zuletzt Ab jetzt ist Ruhe und Gundermann - Männer, Frauen und Maschinen. Sein aktueller Theaterabend Utopia, meinetwegen ist eine musikalisch-literarische Spurensuche über das utopische Potenzial im teils unerhörten Werk Texten ostdeutscher Autorinnen.

JB Die vorherigen Abende waren personenkonzentrierter. Utopia, meinetwegen befasst sich im Grund mit einem ideengeschichtlichen Begriff …

PW Naja, Utopie ist natürlich für jeden etwas anderes. Ich glaube, dass jeder grundsätzlich eine Form von Sehnsucht, Sinnsuche oder einfach Fragen an die ihn real umgebende Umgebung, im Sinne von Heimat, hat. Man ringt sich Formulierungen ab, in der Hoffnung, dass sie eine bestimmte momentane oder auch dauerhaftere Gültigkeit haben. Nur durch eine Standortbestimmung im Jetzt kann man eine Hochrechnung machen auf die Utopien und Sehnsüchte, die in einem schlummern. Und insofern: Hinsetzen tut man sich in der Gegenwart, und, unter dem Eindruck der Vergangenheit, kommt man ja gar nicht umhin, als in eine Zukunft hineinzuschreiben. Ich sehe Utopie nicht zwangsläufig als politischen Begriff, sondern als ein Geflecht aus emotionalen, politischen, sozialen und letzten Endes auch biologischen Rahmenbedingungen.

 

JB Was ist dir, neben einer Multiperspektivtät in der Betrachtung, in deiner Arbeitsweise besonders wichtig?

PW Es ist immer mein Bestreben, dass ich nicht mit einer fertigen Textfassung komme, sondern wir das gemeinsam im Gespräch angehen. Das ist das eine, was mir sehr wichtig ist und das andere, dass ich keine Protagonist:innen-Stücke mag und deswegen auch nicht mache. Das interessiert mich einfach nicht. Deswegen sind das alles Gruppenstücke, wo man, in meinen Augen zumindest, keine klaren Protagonist:innen hat, sondern ein gleichberechtigtes Kollektiv arbeitet gemeinsam an Narrativen. Das steht im Vordergrund. Jetzt kann man sagen: „Wieso denn, Gundermann ist doch nur ein Typ?“ Ja, aber da haben wir es dann auch an zwei Punkten gebrochen: Conny Gundermann, als wichtige Figur, haben wir doppelt besetzt und Gundermann dreifach.

 

JB Gab es für dich in der Arbeit an Utopia, meinetwegen eine Entdeckung?

PW Was ich unterschätzt habe, wie viele Querverbindungen es gibt: Da gibt es einen Briefwechsel von Sarah Kirsch mit Christa Wolf, dann bezieht sich Bettina Wegner auf irgendeine Geschichte einer aus Ex-Jugoslawien stammenden Arbeiterin, die ihre Memoiren geschrieben hat mit all ihren furchtbaren Erlebnissen als Gastarbeiterin in Ost- wie Westdeutschland. Viele der Autorinnen haben sich, jenseits von Konkurrenzneid, für die anderen Stimmen aus den verschiedenen Generationen von Frauen interessiert. Da war ich überrascht, über das Ausmaß der Vernetztheit. Und dann gibt es noch persönliche Entdeckungen, wie die Autorin Katja Lange-Müller, wo wir bei den Proben fast einhellig der Auffassung waren, dass das sensationell interessante und wahnsinnig eloquente und dabei gleichzeitig extrem spröde Texte sind. Und irgendwie trägt diese komische Ausgrabungsarbeit, die wir da – aus meiner Perspektive zumindest – betreiben, auch immer ein Stück weit dazu bei, dass bestimmte Autorinnen nicht verschwinden. Ich kann einen Anreiz schaffen, sich mit etwas zu beschäftigen.

 

JB Hast du das Gefühl, dass es Themen gibt, mit denen sich das Theater nicht beschäftigt, oder vielleicht auch nicht beschäftigen kann?

PW Ich glaube, grundsätzlich kann sich Theater mit jedem Thema beschäftigen, es darf nur nicht unterschätzen, dass es am Ende des Tages ein sinnlich-ästhetisches Medium ist und wenn das nicht stattfindet, sondern nur noch der Diskurs, dann braucht man es auch nicht mehr.

 

Online veröffentlicht im Dezember 2021
Das Ensemble von Utopia, meinetwegen auf der Bühne
Schauspielerin Jennifer Sabel auf der Bühne in Utopia, meinetwegen

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